Hintergründe, Einsichten und Ausblicke zum neuen Normenentwurf

Die DIN 18232-9, Version 2020

Die EU hat bereits 1988 mit der Veröffentlichung der Bauproduktenrichtlinie den ersten Schritt zur europäischen Vereinheitlichung von Bauprodukten gemacht. Mit der 2011 eingeführten Bauproduktenverordnung sind die europäischen Staaten gezwungen, ausschließlich diese harmonisierten Produktnormen anzuwenden.

In einem vielbeachteten Urteil aus 2014 hat der EuGH festgestellt, dass mit der vom DIBt (Deutsches Institut für Bautechnik) veröffentlichten Bauregelliste weitere Anforderungen an Bauprodukte gestellt wurden, was nicht europarechtskonform war. Das DIBt hat die Bauregelliste deshalb ab 2015 nicht mehr fortgeschrieben.

Nach zwei Jahren reger Diskussion wurde in 2017 als Quasiersatz der erste Entwurf der ­MVV-TB (Musterverwaltungsvorschrift Technische Baubestimmung) veröffentlicht. Die MVV-TB stellte nun nicht mehr Anforderungen an die verwendeten Produkte, sondern an Bauwerke und Bauarten, in denen die Produkte eingebaut werden. Dem Planenden kommt dadurch eine erheblich höhere Verantwortung zu, denn er muss die für sein Bauvorhaben passenden Bauprodukte, welche vom Gesetzgeber zur sicheren Nutzung von Gebäuden vorgeschrieben sind, definieren und verwenden.

Das komplette europäische Normenwerk dient der Definition und Festlegung von so genannten „wesentlichen Merkmalen“ von Bauprodukten, den Testmethoden und Leistungsklassen. Für NRWG (natürlich wirkende Rauch- und Wärmeabzugsgeräte) sind das eine Vielzahl von Merkmalen wie Schneelast, Wärmebeständigkeit oder Funktionssicherheit bei Windlasten und weitere mehr.

CE-Kennzeichnung ist nicht gleich Qualitätsstandard

Was der Wegfall der Bauregelliste für die Verwendbarkeit von Natürlichen Rauchabzugsgeräten bedeutet, wird anhand von folgendem Beispiel klar: Die Entrauchungskomponenten für natürlich wirkende Rauchabzugsanlagen wählt ein Architekt oder Planer entsprechend der Normenreihe DIN EN 12101 aus: Entrauchungsgerät (Teil 2), Energieversorgung (Teil 10) und Steuerung (Teil 9).

Die in der DIN EN 12101-2 festgelegte Prüfung für die Schneelastsicherheit legt, vereinfacht gesagt, fest, bei welcher Schneelast eine RWA-Klappe im Dach noch öffnet und somit ihre Funktion vollumfänglich erfüllen kann. In Deutschland war und ist dafür seit vielen Jahrzehnten der Wert 500 N/m² üblich und dieser Wert war national auch immer geregelt.

Mit Wegfall der Bauregelliste und Einführung der Bauproduktenverordnung wäre es zum einen möglich gewesen nur ein wesentliches Merkmal (z. B. Schneelast) zu erfüllen und zum anderen auch ohne einen Mindestwert erfüllen zu müssen. Ein NRWG mit Schneelast 10 N/m² hätte CE-gekennzeichnet werden können und wäre gemäß Bauproduktenverordnung einsetzbar gewesen.

Mindeststandards für Deutschland

Deshalb hat der DIN-Normenausschuss 005-52-32 (für RWA zuständig) 2015 entschieden, dass die in Deutschland gültige DIN 18232 um den Teil 9 erweitert werden soll, in dem künftig Minimalanforderungen an Bauprodukte für Rauchabzugsanlagen festgelegt werden. Selbstverständlich erfolgte das europarechtskonform, also ohne zusätzliche Leistungseigenschaften für die Produkte festzuschreiben.

Der Titel (Stand 2015) „Rauch- und Wärmefreihaltung – Teil 9: Wesentliche Merkmale und deren Mindestwerte für natürliche Rauch- und Wärmeabzugsgeräte nach DIN EN 12101-2“ sagt schon alles darüber aus, was Sinn und Zweck der Norm war und ist: Mindestanforderungen an solche Bauprodukte festzulegen.

Diese Konstellation, dass NRWGs als Bauprodukte nach der DIN EN 12101-2 europäisch geprüft und zertifiziert werden und die DIN 18232-9 national die notwendigen Mindestanforderungen für die Nutzung in Deutschland festlegt, hat sich seitdem bewährt. Die Problematik für die NRWG war gelöst.

Neuer Entwurf der DIN 18232-9 schließt Regelungslücken der EN 12101

Nun gibt es seit 2020 einen neuen Entwurf für die DIN 18232-9 und weitere aktualisierte Fassungen der MVV-TB. Eine Überarbeitung der DIN war notwendig geworden, weil für die Teile 9 (Steuerungen) und 10 (Energieversorgungen) der DIN EN 12101 Regelungslücken vorhanden sind.

Im neuen Entwurf werden für die Energieversorgungen sinnvolle und aus Sicht der Normengruppe notwendige Mindestwerte festgelegt. Die Energieversorgung einer RWA-Anlage muss in der Summe bestimmte Mindestqualitätsstandards erfüllen, um für den Einsatz im anlagentechnischen Brandschutz in Deutschland als geeignet zu gelten.

Zusätzlich ist für die Steuerungen (Teil 9) nun ein Verweis auf die ISO 21927-9 in der Norm enthalten. Die ISO 21927-9 legt die Anforderungen an die Produktleistung, Klassifizierungen und Prüfverfahren für Steuergeräte fest, die für den Einsatz in Rauch- und Wärmeabzugsanlagen in Gebäuden vorgesehen sind. Diese ISO-Norm ist ein inhaltliches Abbild der europäischen Norm, die leider nicht veröffentlicht werden kann, da die Europäische Kommission derzeit keine Anstrengungen macht, den enormen Normenstau der letzten fünf bis zehn Jahre aufzulösen. Was die technischen Anforderungen angeht, so ist die ISO 21927-9 gleichwertig mit der prEN 12101-9 anzusehen.

Was verursacht die Regelungslücken der EN 12101?

Die beiden Normenteile (DIN EN 12101-10 und prEN 12101-9) sind bis heute aus mehreren Gründen nicht vollumfänglich im Markt angekommen. Alle eingereichten Entwürfe des Teil 9 für Steuerungen scheiterten an den von der Europäischen Kommission Jahr für Jahr neu veröffentlichten Rahmenbedingungen für neue Normen. Damit hat der Teil 9 der EN 12101 für die Steuerungen von NRWGs auch weiterhin den Status eines Entwurfs.

Die Energieversorgungen (DIN EN 12101-10) sind zwar seit 2007 europaweit als Produktnorm eingeführt; doch ist die Akzeptanz dieser Norm ohne den Teil 9 für Steuerungen in der Praxis mäßig. Die Energieversorgung und die Steuerung einer RWA-Anlage sind meist ein technisches Konstrukt und können nur bedingt getrennt betrachtet bzw. geprüft werden. Außerdem gilt, ähnlich wie bei der Schneelast der ­NRWGs, auch hier: nicht alle wesentlichen Merkmale muss die Energieversorgung erfüllen, um in den Verkehr gebracht werden zu können. Es reicht eines der Merkmale ohne erforderlichen Minimalwert aus, um bauproduktenkonform zu sein.

Können die MVV-TB und die DIN 18232-9 koexistieren?

Eigentlich wäre mit der DIN 18232-9 und dem aktuellen Arbeitstitel (2020) „Rauch- und Wärmefreihaltung – Teil 9: Mindestwerte der wesentlichen Merkmale für natürliche Rauch- und Wärmeabzugsgeräte nach DIN EN ­12101-2, Energieversorgungen nach DIN EN 12101-10 sowie Steuereinrichtungen nach ISO 21927-9“ alles für die sichere und zweifelsfrei Planung und Ausführung von RWA-Anlagen geregelt.

Es gibt Mindestwerte für Schneelast, Wärmebeständigkeit, Windlasten etc. für die Geräte, Mindestwerte für die wesentlichen Merkmale der Energieversorgungen und technische Regeln für die Steuerungen, ebenfalls mit Mindestanforderungen an technische Charakteristika wie Reaktionszeiten für die Meldung einer Störung beispielsweise. Nichtsdestotrotz wird diese Norm ­aktuell noch sehr kontrovers diskutiert – es gingen nach der Veröffentlichung des Entwurfs 2020 hunderte von Einsprüchen beim DIN ein.

Die Problematik liegt darin, dass Teile der DIN 18232-9 in die MVV-TB aufgenommen wurden. Die Verwaltungsvorschrift will durchaus in der ­Technischen Baubestimmung Mindestwerte festlegen. Doch die momentane Koexistenz der Mustervorschrift, die in den Bundesländern zu einer rechtlich bindenden Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmung wird, und einer DIN-Norm scheint für den Gesetzgeber nur eingeschränkt akzeptabel. Die Bedenken der Bauaufsicht kann man kurz zusammengefasst so beschreiben: Die in der DIN geforderten Mindestwerte werden überflüssig, wenn diese schon in der Verwaltungsvorschrift verankert sind.

Leider enthalten die Mindestwerte der MVV-TB abweichend von der derzeit veröffentlichten DIN 18232-9 andere und aus Sicht der Experten unklare Werte. Darüber hinaus gibt es in der DIN 18232-9 aus 2020 Mindestwerte für Energieversorgungen und Steuerungen von RWA-Anlagen, die sonst bis dato in keiner Norm verbindlich festgeschrieben sind.

Mindestwerte sichern – Qualitätsstandards erhalten

Verwaltungsvorschriften müssen zwingend angewendet werden. Normen können, müssen aber nicht angewendet werden. Dort wo die Technischen Baubestimmungen jedoch Lücken haben oder für eine vorhandene Regelung technischer Abstimmungsbedarf besteht, sollten weiterhin die veröffentlichten Normen inklusive der dort festgelegten Mindestwerte die technisch verbindlichen Regeln darstellen. Der Gesetzgeber hat zwar das hoheitliche Recht, über Verwaltungsvorschriften die Anforderungen an Bauprodukte für die Technische Gebäudeausrüstung vorzugeben. Ohne die technische Expertise der Normungsmitarbeiter dürfte das allerdings in einer immer komplexer werdenden Bauproduktenvielfalt nicht leichtfallen. Eine vertrauensvolle und konstruktive Kooperation ist somit unumgänglich, sinnvoll und zielführend.

Stand Februar 2021: Die Einwände gegen die neue DIN 18232-9 sind weitestgehend abgearbeitet und die Veröffentlichung und Einführung wird nach Abstimmung mit der ARGEBAU TGA noch für das Jahr 2021 erwartet. Für Planer und Architekten ergibt sich aus dem neuen Normenentwurf mehr Transparenz beim Produktevergleich hinsichtlich Qualität und Ausfallsicherheit im Brandfall. Für Entscheider stellen die in der Normerweiterung gelisteten Mindestvorgaben eine Absicherung gegen Kostennachforderungen und eventuellen Haftungsfragen dar.

Bleibt zu hoffen, dass die DIN 18232-9 in der Fassung 2021 ihre Aufgabe erfüllen kann - das nationale hohe Sicherheitsniveau für Bauprodukte im Bereich der Entrauchung dort zu verankern, wo die MVV-TB noch keine Vorgaben macht.

Info

Martin Weber ist Inhaber und Geschäftsführer der SIMON PROtec Systems GmbH. Seit November 2020 ist er Vorsitzender des Fachkreises „Rauch- und Wärmeabzugsanlagen (RWA) und natürliche Lüftung“ im ZVEI-Fachverband Sicherheit. Zudem ist Herr Weber langjähriges Mitglied des Normenausschusses beim DIN und aktives Mitglied der Arbeitsgruppe für die Norm 18232-9.

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