Zunftkleidung nach Maß

Besuch bei der Schneiderin Roswitha Weckert in Gerabronn (Kreis Schwäbisch Hall)

Roswitha Weckert ist eine der letzten selbstständigen Schneiderinnen in Deutschland, die Zunftkleidung nach Maß für Handwerkerinnen und Handwerker anfertigt. Ihr Geschäft in der Ortsmitte von Gerabronn ist inzwischen zu einem beliebten Anlaufpunkt für Gesellinnen und Gesellen auf der Walz geworden.

Zwirn-Doppel-Pilot, Flügeltaschen, Leder links, 80er Schlag: Roswitha Weckert notiert alles auf dem Auftragsbogen – und nimmt dann Maß. Hals, Schulter, Ober- und Unterarm, Leibhöhe, Brust, Hüfte, Ober- und Unterschenkel, übers Knie und im Schritt. Dort misst sie immer nach, denn: „Im Schritt muss die Hose passen, sonst isch es nix“, erklärt die 67-jährige Schneiderin. Bei Friedrich Dippon, Zimmerermeister und Inhaber eines Holzbaubetriebs in Weinstadt bei Stuttgart, passt die maßgefertigte Hose – und zwar so gut, dass er sich nun eine ganze Kluft nach Maß von Roswitha Weckert schneidern lässt. Stoff und Seitentaschen – links fürs Smartphone, rechts für Zollstock und Bleistift – sind notiert. Die Staude, also das Hemd der Zimmermannskluft, wird nach einem historischen Vorbild aus dem 19. Jahrhundert aus altem Tischleinen geschneidert. In das rote Innenfutter der Weste wird das Wappen der Württemberger eingestickt. Der Zimmerermeister wohnt unweit der Beutelsbacher Stiftskirche, die als Wiege des späteren Königshauses Württemberg gilt.

Maßgefertigte Berufsbekleidung

Die Schneiderin notiert sich die Anforderungen an die neue Kluft in großer Schrift. Sie schneidert nach Auftrag und Maß. Kundinnen und Kunden kommen mit Fotos, detaillierten Zeichnungen zu Anzahl und Größe von Taschen für die Jacke und die Weste, Ideen und Vorlagen für Aufnäher zu der selbständigen Schneiderin. Roswitha Weckert kennt außerdem die Farben und Zeichen der verschiedenen Schächte und Gesellenvereinigungen. Sie macht das möglich, was Stoffe und Handwerkskunst hergeben. Körpermaße kann sie aber nicht verändern und auch keinen wohlproportionierten Hintern formen. „Höchschtens mit Polstern“, sagt sie lachend und ergänzt: „Männer sind scho eitel.“ Friedrich Dippon weniger, aber er ist sehr schlank und hat mit 1,97 m Gardemaß. Konfektionsgröße passt ihm meistens nicht, da sie bei ihm reibt und zwickt. Damit das nicht so ist, nimmt Roswitha Weckert ihr Maß, gibt hie und da etwas dazu.

Treffpunkt für durchreisende Gesellen

„Die Kluft muss wie ein Wohnzimmer sein. Es muss was hermachen, aber es muss auch bequem sein“, sagt Weckert. Sie hat lange bei einem bekannten Unternehmen für Zunftkleidung gearbeitet und sich nach der Insolvenz des Unternehmens 2009 selbständig gemacht – zunächst im eigenen Wohnzimmer. Das wurde schnell zum Treffpunkt von durchreisenden Gesellen, aber auch von denen, die erst auf die Walz gehen. Ihr verstorbener Mann unterstützte ihre Selbstständigkeit, war unter der Woche mit dem Lkw im Fernverkehr unterwegs. Als er aber zunehmend am Freitagabend seine Couch und die Aufmerksamkeit seiner Frau mit den Wandergesellen teilen musste, mietete Roswitha Weckert einen Laden in der Ortsmitte von Gerabronn, um dort Kluft und Berufsbekleidung zu Schneidern. Was nicht immer zum Wohlgefallen der Nachbarschaft ist: Manchmal stehen Wandergesellen in Unterhosen rauchend vor ihrem Laden, während Roswitha Weckert den schweren Stoff ihrer Zunfthosen flickt. 

Roswitha Weckert Zunftschneiderin Gerabronn Aufnaeher Roswitha Weckert schneidert Zunftkleidung nach Maß und persönlichen Anforderungen der Kunden
Foto: Volker Simon

Roswitha Weckert schneidert Zunftkleidung nach Maß und persönlichen Anforderungen der Kunden
Foto: Volker Simon

Viele Gesellinnen und Gesellen kommen inzwischen unangemeldet bei der Schneiderin vorbei, die immer eine offene Tür und ein offenes Ohr hat. Auf ihrer Eckbank im Atelier hat sie sich schon vieles angehört, auch das, was sie lieber ganz schnell wieder vergessen würde. Gestandene Manns- und Weibsbilder haben ihren Obermann (Bezeichnung für einen Hut oder Zylinder als Teil der Kluft) abgelegt und Roswitha Weckert von der Walz erzählt. Aber es standen auch schon Jünglinge vor ihr zum Maß nehmen, für die die zünftige Wanderschaft nicht der Weg zur Freiheit und Selbstbestimmtheit wurde, sondern zu einer Sackgasse von Selbstzweifeln, geplagt von Heimweh und Sehnsucht nach Familie, Freunden und der zurückgelassenen Liebsten. Umso mehr freut sie sich, wenn sie sich getäuscht hat, die Männer und Frauen entgegen ihrer Annahme in ihre Kluft hineingewachsen sind, nach alter Tradition ihren Hut abnehmen, dreimal mit dem Stenz (= Stock) auf den Boden klopfen, um dann Roswitha Weckert in die Arme zu fallen. Das Wiedersehen muss dann auch zünftig gefeiert werden. „Manche sind als Kinder gegangen und als Männer wieder gekommen, das freu mich“, erzählt sie mit strahlenden Augen.

Gesellin lässt ihre Kluft für die Walz schneidern

Das Strahlen in den Augen hat sie auch bei Kathrin gesehen, die bei ihr zusammen mit Friedrich Dippon auf der Eckbank saß und Maß nehmen ließ. Die 23-jährige hat ihre Lehre bei Holzbau Dippon absolviert und konnte es kaum erwarten, Anfang Oktober 2023 als Freireisende loszugehen, trotz aller möglicher Entbehrungen. Natürlich hat Kathrin nach der Tradition die sechs Perlmuttknöpfe des Jacketts und die acht Perlmuttknöpfe der Weste in einem Z-Stich angenäht. Die Kluft hat der Chef bezahlt – Ehrensache.

Auch Kathrin musste vor die Ladentür – in Kluft zum Fotoshooting mit Roswitha Weckert. Das sorgte für viel Aufsehen in Gerabronn. An Gesellen in Unterhosen hatten sich die Nachbarn nur schwer gewöhnt. Aber spätestens als deutsche Wandergesellen in Rio de Janeiro verdutzten Bürgern aus Gerabronn erklärten, dass Handwerkerinnen und Handwerker auf der ganzen Welt mit maßgeschneiderter Kluft von Roswitha Weckert unterwegs sind, waren die Vorbehalte vergessen.

Kleider machen Leute

Vorbehalte begegneten Wandergesellen auch schon im 18. Jahrhundert. Deshalb wurde schon damals die Kluft aus dem teuren Stoff Cord geschneidert. Mit Jackett, Weste, Ehrbarkeit (= Krawatte), Obermann und Taschenuhr kamen die Wandergesellen eher wie im Sonntagsanzug daher, um ihre Rechtschaffenheit zu zeigen. Kleider machen Leute.

Aus Stoffen in Schwarz, Beige und Blau entsteht Berufsbekleidung für einen Zimmerer, eine Steinmetzin und einen Metallbauer Schwarz, beige und blau: Für die zünftige Berufsbekleidung von Zimmerern, Steinmetzen und Metallbauern sind unterschiedliche Stoffe nötig
Foto: Volker Simon

Schwarz, beige und blau: Für die zünftige Berufsbekleidung von Zimmerern, Steinmetzen und Metallbauern sind unterschiedliche Stoffe nötig
Foto: Volker Simon
Cord war im 18. Jahrhundert der Stoff der reichen Bevölkerung. Nur Adelige und reiche Bürger konnten sich den edlen Rippensamt leisten. Cord wurde damals meist aus reiner Seide gewebt. Statt schöner Kleidung brauchten die englischen Bergwerksarbeiter und die französischen Landarbeiter robuste Arbeitsbekleidung. Die Weberreihen entwickelten deshalb einen robusten Cordstoff. Mit dreifach gezwirnten Kettfäden, der sogenannten Dreidrahtkette, wurde der Stoff fast so reißfest wie eine richtige Kette. Nicht nur Matrosen und Arbeiter nutzten Arbeitskleidung aus Cord, auch der Bergsteiger Luis Trenker trug bei seinen Gipfelbesteigungen robuste Cordhosen.

Maßgefertigte Arbeitshose aus Deutschleder

Friedrich Dippon sitzt mit einer Maßhose ohne Schlag und aus Deutschleder auf der Eckbank bei Roswitha Weckert. Er trägt die Hose sowohl im Büro am Schreibtisch als auch auf der Sitzbank seines Motorrads auf dem Weg zu den Baubesprechungen. Deutschleder ist robust und fest wie Leder und besteht doch nur aus reiner Baumwolle. Es zeichnet sich durch ein besonders festes Gewebe mit einer hohen Dichte von Schussgarnen und starken Kettgarnen aus. Mit der angerauten Innenseite ist die Hose angenehm zu tragen und die glatte, leicht glänzende Außenseite wetzt sich, anders als bei Cordstoff, nicht ab. Nur beim Waschen in der Waschmaschine ist Obacht geboten: Der Stoff läuft etwa vier Zentimeter in der Weite ein – doch bei Friedrich Dippon passt die Hose noch immer.

Dippon_Portraet_2.jpg Friedrich Dippon, Zimmermeister aus Weinstadt bei Stuttgart, hat sich von Roswitha Weckert eine maßgefertigte Arbeitshose schneidern lassen und vor kurzem eine ganze Kluft bei der Schneiderin in Auftrag gegeben
Foto: Volker Simon

Friedrich Dippon, Zimmermeister aus Weinstadt bei Stuttgart, hat sich von Roswitha Weckert eine maßgefertigte Arbeitshose schneidern lassen und vor kurzem eine ganze Kluft bei der Schneiderin in Auftrag gegeben
Foto: Volker Simon

Wer nicht wie Friedrich Dippon in eineinhalb Stunden mit dem Motorrad aus dem Remstal durch das Murrtal und den Schwäbischen Wald ins Hohenlohische  nach Gerabronn kurvt, um nochmals für eine neue Hose Maß nehmen zu lassen, der vertraut auf die Schnittbögen, die Roswitha Weckert von allen Kunden angefertigt hat, sowie das Augenmaß und Gefühl der 67-Jährigen. 

Lange Lieferzeiten bei Stoffen und Reißverschlüssen

Gegenwärtig müssen Kunden aber länger auf ihre Kluft warten. Roswitha Weckert deutet auf die bunten Stoffballen in ihrem Geschäft: Roter und blauer Stoff für das Innenfutter oder die Rückseite der Weste, aber kein Zwirn-Doppel-Pilot oder Deutschleder sind aufgerollt. Reißverschlüsse sind Mangelware. Mittlerweile muss sie die einzelnen Bestellungen sammeln, um mit Stoff beliefert zu werden. Zwei Wochen nach der Stofflieferung ist die Kluft dann zur ersten Anprobe fertig. Gegenwärtig dauert es etwas länger – nicht nur wegen des fehlenden Stoffs oder der Reißverschlüsse. Roswitha Weckert tritt kürzer und hat ihr Herz wieder verloren: an Ludwig, einen bayerischen Zimmermann in Rente. 

Tipp: Wer sich für maßgeschneiderte Zunftkleidung interessiert, findet das Fachgeschäft von Roswitha Weckert in der Hauptstraße 3 in 74582 Gerabronn.

Autor

Volker Simon ist Geschäftsführer der PR- und Kommunika­tionsagentur nota bene communications in Weinstadt.

Die Kluft im Zimmererhandwerk

Die traditionelle Berufsbekleidung im Zimmererhandwerk ist die Kluft und wird unter anderem von Gesellinnen und Gesellen auf der Walz getragen. Neben einer schwarzen Arbeitshose besteht die Kluft aus einer schwarzen Weste, einem Jackett und aus den folgenden Kleidungsstücken:

Staude: weißes Hemd mit Biesen

Ehrbarkeit: Strickkrawatte in unterschiedlicher Farbe, je nach Schacht oder Gesellenvereinigung

Perlmuttknöpfe: Sechs am Jackett für die 6-Tage-Woche, acht an der Weste für den 8-Stunden-Tag

Latz: Dieser geht auf Matrosenhosen zurück, die einen beidseitig knöpfbaren Latz hatten. Durch den Latz wurde das Seil gezogen. Wenn die Matrosen in der Takelage hingen und abrutschten, blieben diese mit der Hose hängen. Die Schiffszimmermänner übernahmen dies von den Matrosen.

Stenz: Stock

Obermann: Hut, Zylinder

Charlottenburger: gefaltetes Leinentuch für Kleidung, Werkzeug, Waschzeug und persönliche Gegenstände

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